Ein Gastbeitrag von Univ.-Prof.in Dr.in Petra Velten

Wenn man sich das Gerichtsurteil gegen Josef S. zu Herzen nimmt, sollte man besser in Zukunft einen großen Bogen um Demonstrationen machen, bei denen die Gefahr besteht, dass einige wenige Gewalt ausüben. Wer will einem den friedlichen Ausgang einer Demonstration garantieren?

Was macht § 274 StGB so gefährlich?

Landfriedensbruch begeht jeder, der an einer „Zusammenrottung“ von Menschen teilnimmt, deren Ziel es ist Straftaten von Sachbeschädigung bis Mord zu begehen, falls er um diese Zielsetzung weiß. Bestraft wird er nur dann, wenn es zu einer dieser Straftaten gekommen ist. Das wiederum geschieht auch dann, wenn er von der tatsächlichen Begehung der Taten nichts wusste. Schweren Landfriedensbruch begeht, wer entweder Rädelsführer einer solchen Zusammenrottung war oder selbst eine dieser Straftaten begangen hat. Im Falle von Josef S. war das Gericht sogar von Letzterem überzeugt, die Mehrheit der zahlreichen Prozessbeobachter ganz und gar nicht. Aus ihrer Sicht zeigte der Prozess, dass wer dringend einen Sündenbock sucht, diesen auch findet. Nicht nur gegen die Beweiswürdigung, richtete sich die Kritik. Rechtsstaatliche Justiz braucht andere Gesetze als den § 274. Eine Strafvorschrift, der einen derartigen Interpretationsspielraum zulässt und der in der Praxis die Versammlungsfreiheit aushebeln kann, ist gefährlich.

Das eigentliche Anliegen des § 274 StGB ist kein so schlechtes: Wenn man sich vorstellt, dass eine Menge randalierender Menschen die Integrität und Sicherheit insbesondere von Minderheiten bedroht, etwa, indem sie grölend vor deren Haus zieht, die Fensterscheiben zerschlägt und Brandsätze hineinwirft, wird klar, dass es einen guten Grund gibt, nicht nur diejenigen zu bestrafen, die eigenhändig die Brandsätze geworfen und die Scheiben eingeschlagen haben. Diejenigen, die sich mit ihnen zusammengeschlossen und sie begleitet haben, bieten ihnen den Schutz der Anonymität, der Überzahl. Sie tragen dazu bei, dass mögliche Opfer eingeschüchtert und /oder verletzt werden. Sie bieten Deckung und ermöglichen gefahrlose Begehung solcher Taten und ihre Anwesenheit beeinträchtigt die Opfer zusätzlich. Soweit der nachvollziehbare Kern des § 274.

Aber darin erschöpft sich die Vorschrift nicht. Wenn aus einer Demonstration oder am Rande einer Demonstration von einzelnen Personen Gewalttaten ausgeübt werden, dann müssen im Ergebnis alle diejenigen, die friedlich demonstrieren, den Schauplatz verlassen. Friedliche Demonstranten müssen auf die Darlegung ihrer Anliegen verzichten, weil einige randalieren. Das ist mit dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht kompatibel. Zwar verlangt das § 274 so nicht ausdrücklich: Verboten ist an sich nur die Teilnahme an einer Versammlung, die als Ganzes auf die Begehung von Straftaten abzielt. Die gesamte Menge muss Randale im Sinn haben. Einzelne Randalierer transformieren die Demo nicht zu einer unfriedlichen Zusammenrottung. Nun stellen Sie sich aber vor sie nehmen an einer Demonstration teil, bei der zwei, drei Steine fliegen. Wer sagt Ihnen nun, dass das Gericht dies später als die Aktionen Einzelner und nicht der Gruppe insgesamt beurteilen wird? Besser, sie gehen gleich, wenn sie keine Bestrafung riskieren wollen.

Der Fall Josef S. hat ja gerade gezeigt, wie unterschiedlich auch die Einschätzung solcher Aktivitäten sein kann: Für das Gericht war bei Einschätzung der Videos klar, dass ein „schwarzer Block“ agierte, dessen sämtliche Teilnehmer nichts anderes im Kopf hatten, als Straßenschilder herauszureißen, Polizeiautos zu zertrümmern, ebenso wie Fensterscheiben von Geschäften. Andere Betrachter der Videos, wie Florian Klenk vom Falter, etliche Journalisten und auch ich, waren sich ihrer Deutung der Videos längst nicht sicher: Natürlich hörte man Knallkörper, sah herausgerissene Schilder und zertrümmerte Scheiben. Ob sich allerdings einzelne aus der Menge dazu haben hinreißen lassen oder ob es sich möglicherweise um eine Gesamtaktion handelte, das hätten wir beileibe nicht sagen können. Wie kam das Gericht wohl zu seiner abweichenden Einschätzung? Auf die Anwesenheit selbst durfte es das Urteil, dass die Gesamtheit randalieren wollte, nicht stützen. Die wird ja nur unzulässig, wenn die Gesamtheit randalieren will. Ich vermute einmal, es schloss letztlich aus der Kleidung und dem Habitus der Menge auf deren Absicht. Dies genau ist der Punkt, an dem § 274 StGB seinen Charakter als rechtsstaatliche Norm verliert: Sie erlaubt eine am Einzelfall, an den Tätern (und nicht ihrem Verhalten) orientierte Interpretation: Versteht man das Anliegen einer Gruppe, ist man mit deren Auftreten und Erscheinungsbild vertraut, wird man eher dazu tendieren, die Gewalttaten als Exzesse Einzelner zu deuten. Betrachtet man sie als fremd, lehnt ihre politische Haltung ab, ist einem der Habitus unheimlich, dann wird man eher die gesamte Menge als „randalierenden Mob“, als „Zusammenrottung“ betrachten. Wenn die Frage, ob jemand als Straftäter angesehen werden kann, nicht von seinem objektiven Verhalten, seiner Tat, sondern seiner Persönlichkeit abhängig gemacht wird, dann sprechen wir von Täterstrafrecht oder Gesinnungsstrafrecht. Das ermöglicht so etwas wie politisches Strafrecht. Rechtsstaatlich akzeptabel ist allein ein Tatstrafrecht.

Univ.-Prof.in Dr.in Petra Velten ist Institutsvorständin für Strafrecht an der Johannes Kepler Universität.